Die Dirne Rosa

Die Verdunklung während des Krieges, die die Bevölkerung vor Bombenangriffen schützen sollte, verschaffte mir den Vorteil, daß ich unbemerkt von der Trierischen Gasse durch den großen Torbogen in die Dirnengasse gelangen konnte. Sie war eng und dunkel, die Männer, die, an die Hauswände gedrückt, herumstanden, waren kaum zu erkennen. Sie hieß Vogelsgesanggasse und hatte zur Schnurgasse ein leichtes Gefälle.

Ab und zu öffnete sich eine Haustür, ein schwacher Lichtschein fiel auf die steinernen Vordertreppen und auf wenige Quadratmeter Kopfsteinpflaster, der Schatten eines Mannes huschte ins Dunkel der Gasse, oder es wurde in der angelehnten Haustür getuschelt, verhandelt, und dann verschwand der Schatten in der knapp geöffneten Tür.

Viele Male war ich nachts in einer der Dirnengassen gewesen, hatte es aber nur selten gewagt, in den dünnen Lichtspalt zu treten, nach dem Preis zu fragen und mich mit nach oben nehmen zu lassen.

 

Es war im Spätsommer 1941, und ich stand wieder einmal in der Vogelsgesanggasse und wagte nicht, eine Prostituierte anzusprechen. Da sah ich eine Frau leicht schwankend die Gasse herunterkommen. Als sie noch drei oder vier Meter von mir entfernt war, löste sich ein Mann von der Hauswand und trat auf sie zu. Wahrscheinlich einer wie ich, der ihr ein Angebot machen wollte. Später behauptete sie, er habe ihr die Handtasche abnehmen wollen. Wie dem auch sei, als der Mann auf sie zutrat, machte sie eine schnelle Abwehrbewegung, rief etwas wie »Hau ab, du Dreckskerl« und kam ins Stolpern. Sie hielt sich an mir fest, fluchte und tastete nach einem Schuh, der ihr beim Stolpern vom Fuß gefallen war. Der Mann war mittlerweile verschwunden.

Ich erkannte die selten günstige Gelegenheit, hob den kleinen Blumenstrauß auf, der ihr aus der Hand gefallen war, und den Schuh, an dem ein Knopf oder eine Schnalle fehlte. Während ich ihr half, mit nur einem Schuh die Gasse hinunter zu ihrer Absteige zu humpeln, fragte ich sie, ob ich mit ihr nach oben kommen könne.

»Junge, heute geht's nicht, siehst doch, wie blau ich bin, komm morgen, frag nach der Rosa.«

So lernte ich Rosa kennen - und in der darauffolgenden Nacht richtig. Zwar schickte sie mich auch da zuerst fort, aber mit der Aufforderung, in etwa einer Stunde wiederzukommen, wenn keine Freier mehr auf sie warteten.

Und sie nahm mich mit ins Bett. Nicht so, wie normalerweise Dirnen ihre zahlende Kundschaft bedienen, mit hochgeschlagenem Rock und vorne geöffneter Bluse auf dem Sofa an der anderen Wandseite, sondern wir zogen uns beide richtig aus. Rosa behielt nur ein kleines boleroartiges Wämschen an, weil sie etwas erkältet war und fror. Ich erinnere mich noch genau: Wir rauchten zusammen, im Bett sitzend, eine Zigarette, Rosa erzählte mir von ihrer dreizehnjährigen Tochter, die sie irgendwo im Fränkischen im Internat hatte und die nicht wissen durfte, was ihre Mutter in Frankfurt trieb.

Als dieses Thema erschöpft war, erzählte mir Rosa von ihrem Geburtstag, den sie am Abend zuvor mit einigen Freundinnen bei so einem »miesen Nuttenbescheißer« von Wirt gefeiert hatte, weshalb sie auch so betrunken gewesen war. Fast entschuldigend sagte sie: »Ich schluck schon was weg, aber besaufen tu ich mich selten.« Und später: »Bist sauber, Junge? Kein Tripper? Wir nehmen keinen Gummi. Da hat man ja nichts von. Laß mal sehen.« Sie drückte an meiner Eichel, spannte sachkundig die Vorhaut leicht an und sagte erstaunt: »Du hast ja e Juddeschwänzche!«

Ich muß in diesem Augenblick sehr verdattert ausgesehen haben, aber bevor ich noch antworten konnte, ergänzte sie beruhigend: »Macht doch nix, ist mir doch egal, wer du bist.« Und sie gab mir einen freundlichen Klaps auf die Backe.

Es war eine aufregende und ereignisreiche Nacht, denn Rosa war nicht nur eine vorzügliche Lehrerin und ich ein gelehriger Schüler, sie war auch von einer ansteckenden Lustigkeit und eine wirklich begabte Erzählerin, fast eine Scheherezade in den kopfsteinbepflasterten Niederungen käuflicher Liebe. Sie schilderte ihre Nürnberger Zeit vor 1933, in der auffallend viele Juden vorkamen, die - wahrscheinlich nur mir zuliebe - alles gute und anständige Freier waren, ohne die ekelhaften Sonderwünsche. Dann die Jahre nach 1933, als es häufig vorkam, daß man sie und andere Prostituierte aus ihren Quartieren in den Deutschen Hof holte, wo sie hohe Naziführer zu bedienen hatten, und wie sie sie betrunken gemacht und drangekriegt habe. Was sie in dieser Nacht von einem Hurenleben zu erzählen wußte, war ein prallvolles Nürnberger Decamerone, gewürzt mit einem Schuß Josefine Mutzenbacher.

Zwischendurch tranken wir Kognak aus der Flasche, die neben dem Bett stand, und vergaßen natürlich auch nicht das Wichtigste. Rosa erzählte, es wurde spät, sehr spät in der Nacht, und sie erzählte immer noch. Sie sagte, ich solle bei ihr schlafen. Sie wußte ja nicht, daß Mama zu Hause wartete - und wie sie wartete!

Mit einer Lüge - ich konnte ihr unmöglich die Wahrheit sagen - verabschiedete ich mich. Rosa war verärgert, weil sie mit hinunter mußte, um mir die Haustür aufzuschließen. Es mag drei oder vier Uhr morgens gewesen sein. Ich rannte nach Hause. Mit zitternder Hand drehte ich den Schlüssel im Schloß.

 

Ich hätte mit einem Watteschlüssel öffnen können, du hättest es gehört, Mama. Du mußtest es hören, hattest ja die ganze Nacht nicht geschlafen und auf mich gewartet, aufrecht im Bett sitzend, mit drei Kissen im Rücken.

Im ärmellosen Flanellnachthemd kamst du ins Wohnzimmer, hast geweint und gestöhnt, die Hände gerungen und Gott gefragt, mit was du das verdient hättest. Und dann kam Papa aus dem Schlafzimmer, in langen Unterhosen und mit rundem Rücken. Auch er hatte die Nacht kein Auge zugetan. Er sagte nichts, aber mit Gebärden unterstrich und verstärkte er jeden deiner Ausrufe und schüttelte verzweifelt den Kopf über den mißratenen Sohn. Schließlich sagtest du, Mama, wie so oft: »Du bringst uns noch alle ins Unglück! Oh Gott!«

Das war das Schlimmste. Hättest du erst von Rosas Überraschung über das »Juddeschwänzche« gewußt!

Erschöpft sankst du in einem Stuhl zusammen, dein krankes Herz machte nicht mehr mit, es war einfach zu viel. Papa brachte mit schlurfenden Pantoffeln eilends ein nasses Handtuch und du schobst es durch den Ausschnitt des Nachthemds unter die linke Brust.

Wie elend war mir zumute. Vielleicht hattest du wirklich recht, Mama, und ich habe nur an mich gedacht und an mein Vergnügen. Aber da waren noch Papa, Alex, Paula und du, Mama, und ihr konntet von mir verlangen, daß alles, was ich tat, die Rücksicht auf euer Leben, eure Sicherheit, mit einschloß. Gern hätte ich dir über das graue Haar gestreichelt, Mama. Ich habe mich nicht getraut.

 

Für einen Juden war es in dieser Zeit ganz und gar unpassend, so gewöhnliche Triebe zu haben. Ich weiß es, ich wußte es auch damals, und ich schämte mich entsprechend. Aber ob mir darüber die Schamröte kam oder nicht, ich hatte sie nun mal, die Triebe.

So ist es nicht verwunderlich, daß ich mich drei Nächte später wieder in die Vogelsgesanggasse schlich, zu der Dirne Rosa, um mit all meinen Sinnen zu spüren, wie eine Frau schmeckt, die man mit Kopf und Bauch mag: nach Moschus und Rosen, Muskat und billigem Parfüm, nach Fisch, Salz und Erde.

Und Rosa nahm mich an, so wie ich war. Immer wieder wußte sie noch etwas Neues zu erzählen.

Ihre schäkernde, öfters wiederholte Koseform »mei Juddeschwänzche« konterte ich eines Nachts, übermütig geworden, mit der Frage: »Und wenn ich einer wäre?« »Geh, weiß ich doch, was soll's. Behalt's für dich.«

Das war alles, kein Wort mehr von ihr, keines von mir. Aber das ist der Grund, weshalb ich dieses Kapitel über Rosa schreibe.

 

Als ich eines Abends zu Rosa kam, war sie sehr niedergeschlagen. Irgendwer hatte an das Internat, in dem ihre Tochter lebte, geschrieben und die Leiterin auf Rosas Gewerbe aufmerksam gemacht. So erzählte sie es mir, und ich glaubte ihr Wort für Wort, und ich hätte den verprügeln können, wenn ich überhaupt hätte prügeln können, der diese schöne traurige Geschichte in Zweifel gezogen hätte. Sie sagte, sie zittere vor Angst, ihre Tochter könne von dem Brief erfahren und sich von ihr abwenden. Und dann weinte sie so sehr, daß auch mir die Tränen kamen.

Sie war untröstlich. »Was gibt es doch für schlechte Menschen!« Wie ein von papierenen Pausbackenengeln gehaltenes Spruchband schwebte dieser Satz über unser beider Leid.

 

Ungewöhnlich wie der Beginn war das Ende unserer Bekanntschaft. Rosa wurde verhaftet. Zwei Polizisten kamen am späten Nachmittag in die Vogelsgesanggasse und nahmen sie mit, nachdem sie ein paar Wäschestücke und einige Toilettensachen in ein Köfferchen gepackt hatte. Ich erfuhr es am Abend von ihren Hausgenossinnen. Eine solche Verhaftung war damals nichts Ungewöhnliches, in einer Zeit, da jeden Tag jemand verschwand, nicht registrierte Dirnen in Arbeitslager gesperrt wurden und Homosexuelle in Konzentrationslager.

Aber warum hatte man Rosa verhaftet? Ich weiß es bis heute nicht, ich habe sie nie wiedergesehen, ich wagte nicht, in die Vogelsgesanggasse zu gehen und nach ihr zu fragen.

Mama atmete auf, denn jetzt war ich wieder häufiger und früher zu Hause als in den Wochen zuvor.

Wie sehr wünschte ich, Rosa hätte ohne Schaden die Hitlerzeit überstanden, und noch oftmals die Nase, die sie juckte, wenn sie müde war, an eine stachelige Männerbacke reiben und dabei, im Einschlafen, unverständliche Worte murmeln können, so wie sie es bei mir getan hat.

Es war der herbe Geruch, der ihrem Nabel entströmte - ich glaube, es war die Stelle - und mich von Sinnen brachte und der - wenn ich in späteren Zeiten meine Frau liebte und all meine Sinnesorgane davon profitierten, nicht zuletzt meine Nase - mich immer wieder glauben machte, sie müßten beide dem gleichen Stamm entsprossen sein.

Manchmal denke ich: zählt nicht auch Rosa zum Widerstand gegen das Naziregime?

 

Kaiserhof Strasse 12
titlepage.xhtml
jacket.xhtml
Kaiserhof Strasse 12_split_000.html
Kaiserhof Strasse 12_split_001.html
Kaiserhof Strasse 12_split_002.html
Kaiserhof Strasse 12_split_003.html
Kaiserhof Strasse 12_split_004.html
Kaiserhof Strasse 12_split_005.html
Kaiserhof Strasse 12_split_006.html
Kaiserhof Strasse 12_split_007.html
Kaiserhof Strasse 12_split_008.html
Kaiserhof Strasse 12_split_009.html
Kaiserhof Strasse 12_split_010.html
Kaiserhof Strasse 12_split_011.html
Kaiserhof Strasse 12_split_012.html
Kaiserhof Strasse 12_split_013.html
Kaiserhof Strasse 12_split_014.html
Kaiserhof Strasse 12_split_015.html
Kaiserhof Strasse 12_split_016.html
Kaiserhof Strasse 12_split_017.html
Kaiserhof Strasse 12_split_018.html
Kaiserhof Strasse 12_split_019.html
Kaiserhof Strasse 12_split_020.html
Kaiserhof Strasse 12_split_021.html
Kaiserhof Strasse 12_split_022.html
Kaiserhof Strasse 12_split_023.html
Kaiserhof Strasse 12_split_024.html
Kaiserhof Strasse 12_split_025.html
Kaiserhof Strasse 12_split_026.html
Kaiserhof Strasse 12_split_027.html
Kaiserhof Strasse 12_split_028.html
Kaiserhof Strasse 12_split_029.html
Kaiserhof Strasse 12_split_030.html
Kaiserhof Strasse 12_split_031.html
Kaiserhof Strasse 12_split_032.html
Kaiserhof Strasse 12_split_033.html
Kaiserhof Strasse 12_split_034.html
Kaiserhof Strasse 12_split_035.html
Kaiserhof Strasse 12_split_036.html
Kaiserhof Strasse 12_split_037.html
Kaiserhof Strasse 12_split_038.html
Kaiserhof Strasse 12_split_039.html
Kaiserhof Strasse 12_split_040.html
Kaiserhof Strasse 12_split_041.html
Kaiserhof Strasse 12_split_042.html
Kaiserhof Strasse 12_split_043.html
Kaiserhof Strasse 12_split_044.html